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Industrielle Risiken und Versicherungsrecht

Der Sachverständigenbeweis in Frankreich und Deutschland n°5/2021

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Die gerichtliche Zuständigkeit für die Anordnung eines Gutachtens in einem deutsch-französischen Rechtsstreit 

Welches Gericht ist in einem europäischen Rechtsstreit dazu befugt, vor dem Prozess in der Hauptsache  die Einholung eines Gutachtens anzuordnen ?

Diese Frage kann sich beispielsweise stellen, wenn die Maßnahme auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates als demjenigen durchgeführt werden soll, dessen Gerichte für die Entscheidung in der Sache zuständig sind.

Nehmen wir einen Fall, in dem ein deutscher Lieferant an einen französischen Käufer Komponenten einer Industrieanlage verkauft hätte. Die Anlage, für die diese Komponenten bestimmt sind, befindet sich in Frankreich. Es treten sodann Probleme auf, die auf einen Mangel der deutschen Komponenten zurückzuführen sein könnten. Der Kaufvertrag enthält eine Gerichtsstandsklausel zu Gunsten der deutschen Gerichte.

Müssen die Parteien ihren Antrag auf Einholung eines Gutachtens bei dem deutschen Gericht stellen oder können sie ihn bei einem französischen Gericht stellen, mit der Begründung, dass sich die zu begutachtende Industrieanlage in Frankreich befindet ?

Während die Zuständigkeit des Gerichts der Hauptsache – hier des deutschen Gerichts – zweifelsfrei gegeben ist, so ist dies für die Zuständigkeit der französischen Gerichte in Anbetracht eines kürzlich ergangenen Urteils des Kassationshofes (Cour de cassation) weniger eindeutig.

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Die grundsätzliche Zuständigkeit des Gerichts der Hauptsache für die Anordnung der Begutachtung

Da es sich um einen europäischen Rechtsstreit handelt, richtet sich die Bestimmung der Zuständigkeit nach der EU-Verordnung Nr. 1215/2012 vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, bekannt als « Brüssel Ia »-Verordnung oder EuGVVO. Diese Verordnung gewährt dem gemeinsamen Willen der Parteien bei der Bestimmung des in der Hauptsache zuständigen Gerichts stets den Vorrang (Artikel 25 der Verordnung). In Ermangelung einer solchen Vereinbarung bestimmt sie die Zuständigkeit nach dem Wohnsitz des Beklagten und/oder nach der Art des Vertrages. Dabei kann sich durchaus die Frage stellen, ob die vorprozessuale Anordnung einer Begutachtung eine Sicherungsmaßnahme oder eine einstweilige Maßnahme im Sinne dieser Verordnung darstellt (siehe unten). In diesem Fall könnte die Zuständigkeit auch nach deren Artikel 35 bestimmt werden (siehe unten). Dessen ungeachtet bleibt jedoch in jedem Fall das in der Hauptsache zuständige Gericht auch für die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen und einstweiligen Maßnahmen zuständig (Erwägungsgrund 33 der Verordnung; EuGH, Urteil vom 17. November 1998, Nr. C-391/95, VanUden Maritime BV).

In der oben beschriebenen Situation wäre daher grundsätzlich das deutsche Gericht, auf welches die Parteien in einer Gerichtsstandsklausel verwiesen haben, für einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens vor Prozessbeginn zuständig. In der Praxis könnten die Parteien die Sachverständigenermittlung im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens auf der Grundlage der §§ 485 ff. ZPO beantragen.

Diese Maßnahme kann dabei vom deutschen Richter auch dann angeordnet werden, wenn die durchzuführenden Ermittlungen auf französischem Staatsgebiet durchgeführt werden müssen. Wie der Gerichtshof der Europäischen Union bestätigt hat, muss der deutsche Richter dazu nicht unbedingt die in Artikel 17 der EU-Beweisverordnung (Nr. 1206/2001) vorgesehene Genehmigung der französischen Behörden einholen (EuGH, Urteil vom 21. Februar 2013, Nr. C-332/11, ProRailBV gegen XpedysNV u.a.). Diese Verordnung wurde kürzlich überarbeitet ; die neue Version (Verordnung n° 2020/1783) wird ab dem 1. Juli 2022 anwendbar sein.

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Gilt eine ergänzende Zuständigkeit der französischen Gerichte, um die Einholung eines Gutachtens auf dem eigenen Staatsgebiet anzuordnen?

Es wurde die Frage aufgeworfen, ob eine vorprozessuale Begutachtung durch einen gerichtlich bestellten und beauftragten Sachverständigen eine Sicherungsmaßnahme oder einstweilige Maßnahme im Sinne der Brüssel Ia-Verordnung darstellt. In diesem Fall könnte sich die gerichtliche Zuständigkeit – auch – nach deren Art. 35 bestimmen.

Tatsächlich können nach diesem Artikel « die   im   Recht   eines   Mitgliedstaats   vorgesehenen   einstweiligen   Maßnahmen   einschließlich   Sicherungsmaßnahmen   […]  bei   den  Gerichten  dieses  Mitgliedstaats  auch  dann  beantragt  werden,  wenn  für  die  Entscheidung  in  der  Hauptsache  das  Gericht  eines  anderen  Mitgliedstaats  zuständig  ist. »

Der Gerichtshof der Europäischen Union verlangt eine tatsächlich bestehende Verbindung zwischen dem Gegenstand der Maßnahme und dem Hoheitsgebiet des Gerichts, welches sie ausspricht (Urteil Van Uden, s.o.), z.B. dass die Maßnahme auf seinem Hoheitsgebiet vollstreckt werden soll.

Darüber hinaus deckt dieser Wortlaut laut dem EuGH nur solche Maßnahmen ab, die « eine Veränderung der Sach- und Rechtslage verhindern sollen, um Rechte zu sichern, deren Anerkennung im Übrigen bei dem in der Hauptsache zuständigen Gericht beantragt wird » ; mit anderen Worten : Sicherungsmaßnahmen. Umgekehrt ist eine Maßnahme, die dazu dient, die Zweckmäßigkeit einer eventuellen Klage einzuschätzen, die Anspruchsgrundlagen für eine solche Klage zu bestimmen oder die Erheblichkeit der geltend zu machenden Angriffspunkte abzuwägen, keine einstweilige Maßnahme oder Sicherungsmaßnahme im Sinne von Art. 35 der Brüssel Ia-Verordnung (EuGH, Urteil vom 28.04.2005, Nr. C-104/03, St Paul Dairy).

Der französische Kassationshof hatte die Zuständigkeit der französischen Gerichte für die Anordnung eines Sachverständigengutachtens vor Prozessbeginn auf der Grundlage von Art. 35 der Brüssel Ia-Verordnung eindeutig bejaht, ohne dass deren Sicherungscharakter zu prüfen sei (Cass. 1re civ., 14. März 2018., n° 16-19.731).

Eine aktuelle Entscheidung des Kassationshofes (Cass. 1ère civ., 27. Januar 2021, n° 19-16.917) wirft jedoch Fragen auf. Wird dadurch die Rechtsprechung von 2018 in Frage gestellt?

In dem zugrundeliegenden Fall hatten ein deutsches und ein französisches Unternehmen einen Vertrag geschlossen, der eine Gerichtsstandsklausel zugunsten der Münchner  Gerichte enthielt. Das deutsche Unternehmen vermutete eine Vertragsverletzung durch das französische Unternehmen. Es beantragte daher in einem Eilverfahren bei einem französischen Gericht die Bestellung eines Gerichtsvollziehers, der in den Geschäftsräumen der französischen Gesellschaft eine Durchsuchung der EDV-Anlagen durchführen sollte (Artikel 145 CPC). Das Berufungsgericht lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass die Maßnahme allein dazu diene, einen Hauptsacheprozess vorzubereiten, weshalb es sich um eine Maßnahme mit beweiserforschendem Charakter, nicht jedoch um eine Sicherungsmaßnahme oder eine einstweilige Maßnahme handele.

Der Kassationshof hob die Entscheidung mit der Begründung auf, dass das Berufungsgericht hätte untersuchen müssen, ob die Beschlagnahme der elektronischen Dokumente der gegnerischen Partei « nicht dazu diente, das deutsche Unternehmen vor dem Risiko des Verlustes von Beweismitteln zu schützen, deren Erhaltung über den Ausgang des Rechtsstreits entscheiden könnte. »

Dieses Urteil verdeutlicht also, dass eine solche Maßnahme neben dem Zweck der Beweisgewinnung auch den Zweck haben kann, eine Verschlechterung der Beweislage zu vermeiden (was dem vom EuGH geforderten Sicherungszweck entspricht). Der französische Richter ist dann befugt, eine solche, in Frankreich durchzuführende  Maßnahme anzuordnen.

Allerdings kann man sich fragen, ob diese Entscheidung, die in Bezug auf die Bestellung eines Gerichtsvollziehers ergangen ist, das Gericht dazu verpflichtet, in jedem Fall, auch in Bezug auf gerichtliche Sachverständigengutachten, festzustellen, ob die Maßnahme einen Sicherungszweck verfolgt. In dem Fall, der zu dem Urteil aus dem Jahr 2021 führte, war die Entscheidung, die Feststellung durch einen Gerichtsvollzieher vor einem französischen Gericht zu beantragen, sehr wahrscheinlich deswegen getroffen worden, weil es im deutschen Recht keine Maßnahme gibt, die der Feststellung durch den Gerichtsvollzieher entspricht.

Umgekehrt ist es, wie oben erwähnt, durchaus möglich, eine Begutachtung durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen vor den deutschen Gerichten zu beantragen, auch wenn diese anschließend in Frankreich oder in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführt werden muss. Fast alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union verfügen über irgendeine Form von gerichtlichem Sachverständigenwesen (siehe die eingehende Analyse von Alain Nuée im Europäischen Parlament, PE-519.211 „Civil judicial expertise in the EU: national rules and practices“ sowie die Informationen zur Suche nach Sachverständigen in den EU-Mitgliedstaaten). Das Risiko von Forum-Shopping scheint daher im Bereich der sachverständigen Begutachtung weniger einschneidend zu sein. Dennoch kann es aufgrund der wesentlichen Unterschiede, die zwischen den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Begutachtungsverfahrens bestehen, dazu kommen, dass ein bestimmtes Land von den Parteien für die Durchführung des Verfahrens bevorzugt wird.

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Die „richtige“ Gerichtsbarkeit für ein vorprozessuales Sachverständigengutachten – eine Wahl, die gut überlegt sein will

Abschließend sei gesagt, dass das in der Hauptsache zuständige Gericht stets auch für die Anordnung der Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zuständig sein wird. In Anbetracht der jüngsten Rechtsprechung ist der Kläger, der ein Gutachten vor einem französischen Gericht, das in der Sache nicht zuständig ist, beantragen möchte, gut beraten, nachzuweisen :

  • dass die Feststellungen in Frankreich zu treffen sind und daher eine tatsächliche Verbindung zum Hoheitsgebiet des französischen Richters besteht, und
  • dass der Sachverständigenbeweis notwendig ist, weil die Gefahr besteht, dass Beweise verloren gehen, wenn die Feststellungen nicht schnell getroffen werden.

In jedem Fall muss sorgfältig geprüft werden, ob es vorteilhaft ist, die Maßnahme in Frankreich zu beantragen, wenn ein deutsches Gericht in der Hauptsache zuständig ist. Da die Durchführungsmodalitäten dieser Ermittlungsmaßnahme in den beiden Ländern unterschiedlich sind, wird ein Richter im Allgemeinen eher geneigt sein, sich auf ein Sachverständigengutachten zu stützen, wenn es in einem ihm vertrauten Rahmen erstellt wurde.