NEWSLETTER : Der Sachverständigenbeweis in Frankreich und Deutschland n°4/2021
- NewsletterDas berechtigte Interesse an der Einholung eines Sachverständigengutachtens vor Einleitung eines Rechtsstreits
Sowohl im französischen als auch im deutschen Zivilprozessrecht besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, ein Sachverständigengutachten bereits vor der Einleitung eines Rechtsstreites einzuholen. Eine dieser Voraussetzungen ist in beiden Ländern das Bestehen eines berechtigten Interesses an der Hinzuziehung eines Sachverständigen. Die Definition dieses Begriffes ist in den beiden Rechtsordnungen jedoch nicht identisch. Einige aktuelle Beispiele aus der Rechtsprechung illustrieren dieses Kriterium.
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Das Ziel einer « Expertise in futurum » in Frankreich: die Beschaffung von Beweisen im Hinblick auf einen späteren Rechtsstreit
Artikel 145 der französischen Zivilprozessordnung (Code de procédure civile) sieht vor : « Besteht vor der Einleitung eines Rechtsstreits ein legitimes Interesse an der Sicherung oder Beschaffung von Beweisen über Umstände, von denen der Ausgang eines Rechtsstreites abhängen könnte, können die gesetzlich vorgesehenen Beweismaßnahmen auf Antrag eines jeden Betroffenen im einstweiligen oder vorläufigen Verfahren angeordnet werden. »
Eine solche Maßnahme kann insbesondere die Einholung eines Sachverständigengutachtens sein. Das französische Zivilprozessrecht hat damit eine Möglichkeit geschaffen, vor Erhebung einer Klage zu untersuchen, ob es überhaupt aussagekräftiges Beweismaterial gibt und ob eine Klage ausreichende Aussicht auf Erfolg hätte. Allerdings bedarf es dazu eines legitimen Interesses, welches nicht immer leicht zu begründen ist, wie die folgenden Entscheidungen des Kassationshofes (Cour de cassation) zeigen :
Eine erste Entscheidung (24. Juni 2020, n°18-17104) betrifft die Begutachtung von Unterlagen einer Gesellschaft. Diese in Artikel 225-231 des französischen Handelsgesetzbuches (Code de commerce) vorgesehene Maßnahme (« Expertise de gestion ») erlaubt es Minderheitsgesellschaftern, sich über die Vorgänge in der Geschäftsführung zu informieren. Der Sachverständige hatte seinen Auftrag nicht vollständig ausführen können, da ihm einige Dokumente von der Gesellschaft vorenthalten worden waren. Dessen ungeachtet konnten durch das Gutachten einige Unregelmäßigkeiten in der Geschäftsführung aufgedeckt werden. Der Minderheitsgesellschafter beantragte daraufhin die erneute Einholung eines Gutachtens desselben Sachverständigen, dieses Mal auf der Grundlage von Art. 145 des CPC.
Das Berufungsgericht (Cour d’appel) lehnte diesen Antrag mangels eines legitimen Interesses ab : Dem Antragsteller ginge es nur darum, Unterlagen zu beschaffen, die er nicht im Rahmen des ersten Gutachtens habe erlangen können. Das Gericht erinnerte an die unterschiedliche Zielsetzung der beiden Gutachten : die „Expertise de gestion“ dient der Information des Minderheitsgesellschafters, während bei es bei der „Expertise in futurum“ um die Beschaffung von Beweisen geht.
Der Kassationshof hob dieses Urteil auf : um festzustellen, ob ein legitimes Interesse vorliegt, hätte das Berufungsgericht ermitteln müssen, ob die beantragte Begutachtung nicht zur Vorbereitung einer Schadensersatzklage aufgrund der Mängel in der Geschäftsführung gerechtfertigt sei.
Der Kassationshof hat damit klargestellt, dass sich zwei Begutachtungen mit unterschiedlichen Zielen ergänzen können. Tatsächlich beruht die „Expertise de gestion“ auf der freiwilligen Teilnahme der Gesellschaft; der Sachverständige kann ohne deren Einverständnis nicht tätig werden. Die „Expertise in futurum“ hingegen kann ohne das Einverständnis der Gegenseite und unter Umständen sogar ohne deren Wissen (wenn sie im einstweiligen Rechtsschutz ohne Anhörung des Gegners angeordnet wird) stattfinden. Sie ist somit eine sehr wirksame Maßnahme.
In seiner Entscheidung vom 10. Dezember 2020 (N°19-22-619) hingegen hat der Kassationshof das legitime Interesse nicht anerkannt : wieder ging es um einen Minderheitsgesellschafter, der Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung seiner Gesellschaft hatte. Er beantragte die Einholung eines Sachverständigengutachtens gem. Art. 145 CPC. Sein Antrag wurde jedoch in allen Instanzen abgelehnt. Ein legitimes Interesse sei nicht ersichtlich, da er keinerlei konkrete Anhaltspunkte für seine Vorwürfe vorgetragen hatte. Die Entstehung eines Rechtsstreits schien somit ausgeschlossen.
Dabei hatte der Antragsteller erklärt, er plane eine Haftungsklage gegen die Gesellschaft. Es sei ihm nur unmöglich, seine Vorwürfe genauer zu belegen, da die von ihm verlangten Belege ja gerade im Rahmen der Begutachtung zutage gefördert werden sollten.
Dies überzeugte den Kassationshof nicht. Dieser betonte folgende grundlegende Prinzipien :
- Die Würdigung des Kriteriums des legitimen Interesses liegt im freien Ermessen des Tatrichters.
- Die festzustellenden Vermutungen müssen auf konkreten, objektiven und überprüfbaren Tatsachen beruhen.
- Der Antragsteller muss in plausibler Weise glaubhaft machen, dass ein Rechtsstreit anhängig gemacht werden kann, dessen Ausgang von den Ergebnissen der Begutachtung abhängig ist.
Reine Vermutungen sind somit zur Begründung eines legitimen Interesses im Sinne von Art. 145 des CPC nicht ausreichend.
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Das selbständige Beweisverfahren vor deutschen Gerichten – Feststellungen mit dem Ziel einer Streitvermeidung
Im deutschen Recht kann auch vor Einleitung eines Hauptsacheverfahrens ein selbständiges Beweisverfahren (§§ 485 ff. ZPO) durchgeführt werden, soweit der Antragsteller ein rechtliches Interesse an der Feststellung
- des Zustands einer Person oder des Zustands oder Wertes einer Sache,
- der Ursache eines Personenschadens, Sachschadens oder Sachmangels oder
- des Aufwands für die Beseitigung eines solchen Schadens oder Mangels
geltend macht.
Ein solches rechtliches Interesse ist anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dient.
Das OLG Hamm (Beschl. v. 25. Juni 2019 – 28 W 15/19) klärte die Voraussetzungen für das rechtliche Interesse anhand eines Falles im Zusammenhang mit dem « Dieselgate » : Ein Autokäufer vermutete, das von ihm erworbene Modell hätte einen unzulässig erhöhten Schadstoffausstoß und plante deswegen die Erhebung einer Schadensersatzklage gegen den Fahrzeughersteller. Die Schadstoffemissionen wollte er mittels eines Sachverständigengutachtens im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens feststellen lassen.
Die Fahrzeugherstellerin meinte, dieser Antrag sei unzulässig, da er auf bloße Ausforschung gerichtet und daher kein rechtliches Interesse gegeben sei.
Das OLG stellte sich auf die Seite des Antragstellers : die Frage nach den Schadstoffemissionen des Fahrzeuges sei ein zulässiges Beweisthema, da davon dessen Zustand betroffen sei. Der Begriff des rechtlichen Interesses sei weit auszulegen. Der Antrag könne sich auch auf Tatsachen beziehen, die der Antragsteller nur vermutet. Nur wenn diese Vermutungen völlig willkürlich sind oder ein Rechtsstreit von vornherein keinerlei Aussicht auf Erfolg hat, ist der Antrag abzuweisen. In Anbetracht der Berichterstattung zu anderen Fällen aus dem Dieselgate sei eine solche Situation im vorliegenden Fall aber nicht gegeben.
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Das Vorliegen konkreter Anhaltpunkte als Trennlinie zwischen zulässiger Prozessvorbereitung und unzulässiger Informationsgewinnung
Sowohl im französischen als auch im deutschen Recht ist es für die Einleitung eines Beweisverfahrens also von entscheidender Bedeutung, konkrete Anhaltspunkte für die festzustellenden Tatsachen vorzulegen. Eine reine Vermutung ist nicht ausreichend. Ob es sich nun wie im französischen Recht um die Vorbereitung eines Rechtsstreits oder wie im deutschen Recht um dessen Vermeidung handelt, ist aber ein schmaler Grat…
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