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Industrielle Risiken und Versicherungsrecht

NEWSLETTER : Der Sachverständigenbeweis in Frankreich und Deutschland n°1/2021

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Die Begleitung von Unternehmen aus der Industrie oder ihrer Versicherer in Verfahren zur Gutachtenerstellung durch einen Sachverständigen zählt zu den täglichen Tätigkeiten unseres Teams für Industrielle Risiken und Versicherungsrecht. Dabei müssen von Beginn an und auch während der Durchführung der Begutachtung strategische Weichenstellungen getroffen werden, sei es bei der Auswahl des anzurufenden Gerichts, bei der Bestimmung des Sachverständigen und der Festlegung seines Auftrags, später bei den Ortsterminen, in der Kommunikation mit dem Sachverständigen, gegebenenfalls bei dessen Anhörung vor Gericht, bis hin zur Verwertung des Gutachtens im Gerichtsverfahren.

Insbesondere das Verständnis des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens ist in Frankreich und Deutschland ein Anderes, was zu einer unterschiedlichen Praxis führt, je nachdem ob das Verfahren sich in Frankreich oder in Deutschland abspielt. Es bestehen aber noch viele andere Aspekte, die besonders zu beachten sind: Fristen, Schriftverkehr mit dem Sachverständigen, Verfahrensregeln…

hw&h bietet Ihnen an, Sie regelmäßig über die neuesten Entwicklungen aus diesem Themenkreis zu informieren. In einem einmal pro Monat erscheinenden Newsletter bereiten wir aktuelle Themen aus einer rechtsvergleichenden deutsch-französischen Perspektive auf. Wir freuen uns über Ihre Fragen und Anregungen: sprechen Sie uns gerne an.

Unseren Abonnenten wird zudem ein Leitfaden zum Ablauf des Sachverständigenverfahrens in Frankreich in deutscher und englischer Sprache angeboten. Wenn Sie ihn erhalten möchten, schicken Sie uns gern eine E-Mail oder klicken Sie auf „Download“ auf unserer Website. In Kürze wird ein ähnliches Dokument zum Ablauf eines solchen Verfahrens in Deutschland in französischer Sprache angeboten.

Wir wünschen Ihnen eine unterhaltsame Lektüre!

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Sachverständige und Corona – Die Durchführung von Ortsterminen während der Pandemie

Seit Beginn der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 und der daraufhin beschlossenen Kontaktbeschränkungen mussten zahlreiche persönliche Treffen abgesagt werden; sie werden seitdem meist durch Videokonferenzen ersetzt. Darauf mussten sich sämtliche Wirtschaftsbereiche einstellen – auch die Justiz. Dies gilt auch für die Arbeit der gerichtlich bestellten und beauftragten Sachverständigen. Insbesondere die Abhaltung von Ortsterminen stellte die Sachverständigen vor praktische Probleme : zu diesen Terminen, oft technischer Natur, die Besichtigungen vor Ort erfordern, müssen Vertreter beider Parteien eingeladen werden, es kommt also zwangsläufig zu persönlichen Kontakten.

Ortstermine im Rahmen eines Sachverständigenbeweises während der Covid-19-Krise: die Sicht der deutschen Gerichte

Das LG Saarbrücken (Urteil vom 12. Mai 2020 – 15 OH 61/19) hat auf die Frage eines Sachverständigen eine klare Antwort gegeben : Der Ortstermin zur Beweisaufnahme müsse trotz der Corona-Pandemie durchgeführt werden, soweit der Termin für die Feststellungen des Sachverständigen zwingend erforderlich sei. In diesem Fall ging es um die Begutachtung von Mängeln in einem Wohngebäude. Der Sachverständige hatte das Gericht angerufen, nachdem eine Partei sich wegen der Gefährdung durch das Coronavirus gegen die Durchführung des Termins ausgesprochen hatte. Das Gericht war der Ansicht, es liege kein erheblicher Grund für die Absage des Termins vor, solange die Regeln des Infektionsschutzes bei diesem Termin eingehalten würden. (In § 227 ZPO ist geregelt, dass ein Verfahrenstermin bei Vorliegen eines erheblichen Grundes aufgehoben oder verlegt werden kann.) Es obliege jedoch dem Sachverständigen, für die Einhaltung dieser Regeln zu sorgen. So müsse er beispielsweise das Tragen von Masken für alle Teilnehmer anordnen. Teilnehmer, die ein Risiko für ihre Gesundheit fürchteten, könnten sich durch eine andere Person vertreten lassen.

Das Gericht betonte dabei, dass die Einhaltung dieser Regeln nicht immer einfach sei, insbesondere wenn kleinere Räume besichtigt werden müssten. Es appellierte daher an die Disziplin der Beteiligten, damit Ortstermine in Anbetracht der Umstände unter bestmöglichen Bedingungen stattfinden könnten.

Das Amtsgericht Schwäbisch-Hall (Beschl. vom 4. Mai 2020 – 1 K 45/19) teilt diese Auffassung: es sei nicht geboten, einen Ortstermin auf ein Datum nach Ende der Covid-19-Pandemie zu verlegen. Eine solche Verschiebung war von einer der Parteien unter Verweis auf das Infektionsrisiko gefordert worden. Das Gericht entgegnete, dass dies kein spezifisches Risiko dieses Ortstermins sei. Vielmehr sei die gesamte Bevölkerung diesem Risiko ausgesetzt, zumindest solange noch kein Impfstoff gefunden worden sei (die Entscheidung stammt aus Mai 2020). Darüber hinaus sei das Infektionsrisiko im vorliegenden Fall gering, da der Gegenstand des Ortstermins die Besichtigung von Grundstücken unter freiem Himmel war. Jedem Teilnehmer stünde es frei, sich von einer bevollmächtigten Person vertreten zu lassen, um jegliches Risiko zu vermeiden. Das Gericht stellte hingegen klar, dass die vorgeschriebenen Infektionsschutzmaßnahmen bei dem Ortstermin selbstverständlich eingehalten werden müssten.

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Die Aufrechterhaltung der wesentlichen Funktionen des Sachverständigenbeweises in Frankreich: die notwendige Anpassung der Verfahren an die sanitären Bedingungen

Ähnliche Fragen stellten sich in Frankreich. In einem Informationsschreiben (Le Covid-19 : l’expertise de justice confinée ? – März 2020) stellten der Nationale Rat der Sachverständigenunternehmen (Conseil national des compagnies d’experts de justice (CNCEJ)) und die Zeitschrift EXPERTS die anwendbaren Maßnahmen aus den verschiedenen Rechtsgebieten vor:

Mitte März wurden die meisten französischen Gerichte geschlossen und nur noch unaufschiebbare Verhandlungen durchgeführt. In diesem Rahmen blieben auch einige Tätigkeiten der Sachverständigen aufrechterhalten. In strafrechtlichen Verfahren betraf dies zum Beispiel körperliche Untersuchungen oder Autopsien.

Ein besonderes Problem stellte sich im Zusammenhang mit Ortsterminen : persönliche Treffen waren während der Geltung der Ausgangssperren im Frühjahr 2020 untersagt. Die Fortbewegung war nur zu beruflichen Zwecken gestattet. Somit hätten zu diesem Zeitpunkt zwar der Sachverständige selbst und die Anwälte der Parteien, nicht aber die Parteien selbst an Ortsterminen teilnehmen können.

In einem FAQ, welches das französische Justizministerium am 26. November 2020 auf seiner Internetseite veröffentlicht hat, stellte es für die zweite Ausgangssperre im Herbst 2020 klar, dass auch den Parteien des Verfahrens die Teilnahme an den Ortsterminen gestattet sei; diese müssten dazu in der Ausgangsbescheinigung das Feld „Vorladung zu einem gerichtlichen Termin“ ankreuzen. Sachverständige und Rechtsanwälte dürfen sich im Rahmen der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit zum Termin begeben. Solange auch die Tätigkeit der Gerichte aufrechterhalten bleibt, kann davon ausgegangen werden, dass sich die Parteien mit dieser Bescheinigung auch während der abendlichen Ausgangssperre von dem Ortstermin an ihren Wohnort zurückbegeben dürfen, wenn es die Dauer des Termins erfordert.

Daneben gibt es mit Artikel 279 des Code de procédure civile eine Vorschrift im französischen Zivilverfahrensrecht, welche es dem Richter erlaubt, die Frist für die Abgabe eines Sachverständigengutachtens zu verlängern, sollte der Sachverständige mit Schwierigkeiten konfrontiert sein, die ihn am Abschluss seines Auftrags hindern.

Auf dieser Grundlage wurden dann auch tatsächlich zahlreiche Fristen für die Vorlage von Sachverständigengutachten verschoben.

Bei bestimmten Angelegenheiten können Termine auch per Videokonferenz durchgeführt werden. In einem solchen Fall sollte der Sachverständige jedoch in besonderem Maße auf die Einhaltung des Prinzips des kontradiktorischen Verfahrens achten : Dazu gehört insbesondere, vorab das schriftliche Einverständnis aller Beteiligten einzuholen und ihnen sämtliche zur Durchführung des Termins notwendige Unterlagen zu übermitteln.

Auch im Verwaltungsverfahren konnten während des ersten Lockdowns nur die eiligsten Verfahren durchgeführt werden. Dazu zählen insbesondere die Verfahren in Bezug auf „vom Zerfall bedrohte Gebäude“ (immeubles menaçant ruine (IMR)), welche die Begutachtung eines Bauwerkes innerhalb von 24 Stunden erfordern. In der Regel ruft der Bürgermeister der betroffenen Gemeinde in solchen Fällen das zuständige Verwaltungsgericht an. Dieses benennt dann den Sachverständigen. In Notfällen, insbesondere wenn das Gericht infolge der pandemiebedingten Einschränkungen nicht erreichbar ist, kann der Bürgermeister den Sachverständigen auch selbst benennen (Art. L. 2212-2 und L. 2212-4 des Code général des collectivités territoriales). Alternativ dazu können Sachverständige, die mit dem Thema vertraut sind, ein solches IMR von sich aus melden.

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Die praktische Umsetzung: Rückgriff auf elektronische Kommunikationsmittel

Sicherlich ist die Arbeit der gerichtlichen Sachverständigen durch die Pandemie und die damit einhergehenden Beschränkungen erschwert worden. Dennoch bleibt die Ausübung ihrer Tätigkeit in vielen Fällen und unter bestimmten Bedingungen möglich und viele Sachverständigenverfahren werden, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten, unter guten Bedingungen fortgesetzt. Im Allgemeinen greifen die Sachverständigen, genau wie andere Berufsgruppen, nunmehr verstärkt auf die Mittel der elektronischen Kommunikation und insbesondere auf die Videokonferenz zurück.

In Frankreich gibt der CNCEJ dazu praktische Hinweise: im Juni 2020 hat er in Zusammenarbeit mit dem französischen Justizministerium ein Merkblatt betreffend die Anordnung einer Gutachtenerstellung im Zivil- und Verwaltungsverfahren erstellt. Dieses Merkblatt listet Empfehlungen betreffend die Abhaltung von Ortsterminen während der Pandemie auf. Es stellt die Infektionsschutzmaßnahmen vor, die während des Termins eingehalten werden müssen, erinnert an die Notwendigkeit, das Einverständnis der Parteien zur Abhaltung von Videokonferenzen einzuholen, empfiehlt die Übermittlung von Stellungnahmen und Anhängen auf elektronischem Wege etc. … Es gibt abschließend Antworten auf mehrere Fragen, die häufig von Sachverständigenunternehmen gestellt werden. Dieses Merkblatt kann hier heruntergeladen werden.

Zudem hat die Nationale Gemeinschaft der gerichtlichen Sachverständigen in Informatik und verwandten Technologien  (Compagnie Nationale des Experts de Justice en Informatique et Techniques Associées (CNEJITA)) im Juli 2020 einen Referenzrahmen guter Praktiken für die Verwendung der Videokonferenz in Sachverständigenterminen veröffentlicht. Dieser Referenzrahmen kann hier heruntergeladen werden.

In Deutschland bieten die Industrie- und Handelskammern den Sachverständigen eine Orientierungshilfe an. Sie geben insbesondere Ratschläge zur Organisation eines Ortstermins während der Pandemie (siehe beispielhaft die Ratschläge der IHK Leipzig).

Im Falle eines privaten bzw. Parteigutachtens müsse der Sachverständige selbst entscheiden, ob der Termin unverzichtbar sei oder verschoben werden könne. Im Falle der Erstellung eines gerichtlichen Gutachtens müsse er dazu zwingend das Gericht befragen.

In jedem Fall müsse der Sachverständige sich versichern, dass keine der Parteien durch die geltenden Beschränkungen an der Teilnahme an dem Termin gehindert sei. Die Industrie- und Handelskammern empfehlen außerdem, sich an die Behörden vor Ort zu wenden, um sich über die geltenden Regeln zum Infektionsschutz zu informieren. Dabei ist zu beachten, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie in die Kompetenz der Bundesländer fallen. Folglich können die geltenden Regeln in den einzelnen Bundesländern voneinander abweichen.

Aufgrund der aktuell geltenden Reisebeschränkungen kann es im Moment zu besonderen Schwierigkeiten bei der Organisation der für ein grenzüberschreitendes Gutachtenverfahren notwendigen Reisen kommen. Es gelten zwar sowohl in Frankreich als auch in Deutschland Ausnahmegenehmigungen für Tätigkeiten der Rechtspflege, und dies auch während des Lockdowns oder der nächtlichen Ausgangssperre. Beispielsweise dürfen Personen aus Risikogebieten nach Bayern einreisen, ohne sich in Quarantäne begeben zu müssen, wenn ihre Tätigkeit für die Aufrechterhaltung der Funktionen der Rechtspflege notwendig ist und sie einen aktuellen negativen Covid-19-Test vorweisen können. (s. die bayerische Einreise-Quarantäneverordnung vom 5. November 2020). Dennoch sollten Sachverständige sich vor jedem Ortstermin über die in dem betreffenden Land oder der betreffenden Region geltenden Bestimmungen und deren Änderungen informieren.

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