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NEWSLETTER : Der Sachverständigenbeweis in Frankreich und Deutschland n°3/2021

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Der Beweiswert von „Privatgutachten“ in Gerichtsverfahren in Frankreich und Deutschland

Regelmäßig ergehen Entscheidungen französischer und deutscher Gerichte zur beweisrechtlichen Verwertung von Gutachten, die durch von den Parteien beauftragten Sachverständigen verfasst wurden. Solche Gutachten werden teilweise  mit entsprechender Beteiligung der Parteien erstellt.

Die Bewertung und Bedeutung dieser „privaten“ Gutachten sind in den beiden Ländern jedoch nicht identisch.

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Das Privatgutachten für den französischen Richter: zwei Gutachten sind besser als eines

In Frankreich ist seit mehreren Urteilen vom 28. September 2012 geklärt, dass der Richter seine Entscheidung zwar allein auf das Gutachten eines gerichtlich beauftragten Sachverständigen stützen kann, nicht jedoch ausschließlich auf ein Gutachten, das auf Antrag einer der Parteien erstellt wurde.

Zu diesem letzten Punkt hat der Kassationshof (Cour de cassation) in einer Entscheidung vom 14. Mai 2020 (Nr. 19-16.278 und 19-16.279) präzisiert, dass dieser Grundsatz auch dann gilt, wenn dieses „private“ Gutachten in Anwesenheit der Parteien, d.h. im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens, erstellt wurde.

Der Kassationshof hat damit seine Rechtsprechung weiter ausgebaut, wonach ein Parteigutachten für sich genommen grundsätzlich keinen ausreichenden Beweis im Zivilprozess darstellen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass solche „Privatgutachten“ wertlos sind: Der Kassationshof hat kürzlich daran erinnert, dass sie unter bestimmten Bedingungen zulässig sind: Sie müssen im Verfahren vorgelegt worden und Gegenstand einer kontradiktorischen Diskussion geworden sein. Außerdem können sie nur dann als Grundlage für die Entscheidung des Richters dienen, wenn sie durch weitere Beweise untermauert werden – selbst dann, wenn sie unter Beteiligung des Gegners erstellt wurden.

Der Richter muss daher prüfen, ob das Gutachten durch ein oder mehrere zusätzliche Beweismittel erhärtet wird. Und es zeigt sich nunmehr, dass ein weiteres Parteigutachten ein solches zusätzliches Beweismittel darstellen kann:

In einem Fall, der vor dem Kassationshof (5. März 2020, Nr. 19-13.509) verhandelt wurde, hatte eine Partei zunächst ein erstes Privatgutachten und dann ein zweites zur Unterstützung des ersten Gutachtens vorgelegt. Das Berufungsgericht lehnte es ab, diese Privatgutachten zu prüfen, da sie nicht nach einem kontradiktorischen Verfahren erstellt worden waren. Der Kassationshof hob diese Entscheidung auf und stellte fest, dass das Berufungsgericht gegen Artikel 16 der französischen Zivilprozessordnung verstoßen hatte, indem es die Tatsache ignorierte, dass die beiden Gutachten zur freien Diskussion der Parteien vorgelegt worden waren. Er erkannte damit an, dass ein zweites Parteigutachten, auch wenn es nicht kontradiktorisch erstellt wurde, ein erstes Gutachten bestätigen kann.

Dies gilt auch für ein gerichtliches Gutachten, das nicht vollständig kontradiktorisch erstellt wurde, z.B. wenn ein Teil der Untersuchungen des Sachverständigen vor dem Streiteintritt einer der Parteien durchgeführt wurde (Kassationshof , 9. Sept. 2020, Nr. 19-13.755).

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Das Privatgutachten vor dem deutschen Richter: ein Beweismittel, das Wirkung zeigen kann

In Deutschland kann ein Privatgutachten unter bestimmten Voraussetzungen zur Feststellung des Sachverhalts ausreichen und einen Antrag auf ein gerichtliches Sachverständigengutachten überflüssig machen. Zu diesem Zweck ist es nicht unbedingt erforderlich, dass es in einem kontradiktorischen Verfahren durchgeführt wird.

Hinweis: In Deutschland ist das Prinzip des „kontradiktorischen“ Verfahrens auch im Rahmen der Erstellung eines gerichtlichen Gutachtens in der Regel nicht einzuhalten. Der Sachverständige muss die Parteien nur dann einberufen, wenn er einen Ortstermin durchführt, um ihnen die Teilnahme an der Besichtigung der Räumlichkeiten zu ermöglichen. Er ist jedoch nicht verpflichtet, Stellungnahmen der Parteien einzuholen oder darauf zu antworten, und muss auch keine Besprechungstermine zur Erörterung umstrittener Punkte organisieren. Er kann allerdings nach Vorlage seines Gutachtens auf Antrag der Parteien in der mündlichen Verhandlung befragt werden und zur Einreichung eines ergänzenden Gutachtens aufgefordert werden. (Zu weiteren Unterschieden zwischen Frankreich und Deutschland im Hinblick auf das Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens siehe Nr. 2 unseres Newsletters „Der Sachverständigenbeweis in Frankreich und Deutschland)

In diesem Sinne hat das OLG Dresden in einer Entscheidung vom 5. Juni 2019 (4 U 548/19) klargestellt, dass ein Privatgutachten die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens entbehrlich machen kann, wenn es die Beweisfragen schlüssig und vollständig beantwortet – in dem zugrunde liegenden Fall hatte die Beklagte das vom Kläger erstellte Privatgutachten allerdings nicht bestritten.

Darüber hinaus kann es zu Unstimmigkeiten zwischen einem gerichtlichen Sachverständigengutachten und einem Privatgutachten kommen. Solche Unstimmigkeiten müssen dann durch den Richter beurteilt werden, der eine tiefergehende Analyse durchführen muss. Diese Untersuchung kann insbesondere darin bestehen, die Angaben des gerichtlichen Sachverständigen sowie des Parteigutachters einander durch die Befragung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung  gegenüberzustellen. Können die Widersprüche nicht aufgelöst werden, kann die Bestellung eines anderen gerichtlichen Sachverständigen in Betracht gezogen werden. Gibt das Gericht einem der Sachverständigengutachten den Vorrang, so hat es seine Entscheidung zu begründen.

Sollte das Gericht diesen Anforderungen nicht gerecht werden, stellt dies einen Verfahrensfehler bei der Beweiswürdigung im Sinne des § 286 ZPO dar. Darüber hinaus kann eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Grundgesetz) vorliegen.

Diese Grundsätze gelten in allen Fällen: egal, ob das Gericht dem Gutachten des Parteigutachters den Vorzug gibt (BGH, 5. Nov. 2019, VIII ZR 344/18), oder beschließt, dem Gerichtsgutachten zu folgen (OLG Oldenburg, 7. Juli 2020, 2 U 46/20), oder sogar, wenn es zwei Parteigutachten und ein Gerichtsgutachten gegeben hat (BGH, 26. Febr. 2020, IV ZR 220/19).

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Die Umsetzung des Prinzips des kontradiktorischen Verfahrens – ein grundlegendes Konzept in beiden Ländern

Obwohl es zwischen Frankreich und Deutschland erhebliche Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie Parteigutachten in Zivilprozessen behandelt werden, bleibt der zentrale Punkt in beiden Rechtssystemen die kontradiktorische Debatte über die in den verschiedenen Sachverständigengutachten zutage geförderten Punkte und deren detaillierte Bewertung durch den Richter. Zu diesem Zweck müssen die Parteien während des Rechtsstreits angehört werden, entweder direkt durch den Sachverständigen oder durch das Gericht, und das Gericht ist verpflichtet, eine kritische Bewertung der vorgelegten Elemente vorzunehmen.

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