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NEWSLETTER : Der Sachverständigenbeweis in Frankreich und Deutschland n°2/2021

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Das Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens in Frankreich – keine Nichtigkeit des Verfahrens ohne Nachweis eines beschwerdefähigen Nachteils

Die Art und Weise der Berücksichtigung des Prinzips des kontradiktorischen Verfahrens im Rahmen der Begutachtung durch einen gerichtlichen Sachverständigen ist einer der wesentlichen Unterschiede, die bei der Durchführung einer solchen Begutachtung zwischen Frankreich und Deutschland gelten.

Das Urteil des französischen Kassationshofs vom 23. Januar 2020 veranschaulicht einmal mehr eine der Besonderheiten des Sachverständigenverfahrens in Frankreich.

In Deutschland wird der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens im Wesentlichen erst nach Vorlage des Sachverständigengutachtens umgesetzt. So können die Parteien stets die Anhörung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung beantragen, um ihm dort alle Fragen zu stellen, die sie zum Verständnis des Falles für erforderlich halten (§§ 397, 402 ZPO, siehe auch BGH, Beschl. v. 20.11.2019, VII ZR 204/17).

Demgegenüber ist es dem Sachverständigen bei einer gerichtlichen Begutachtung in Frankreich aufgegeben, das Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens während der gesamten Dauer seiner Untersuchungen zu berücksichtigen.

Er muss daher grundsätzlich:

  • die Parteien zu den Sachverständigentreffen laden (Artikel 160 der französischen Zivilprozessordnung)
  • auf die von den Parteien abgegebenen Stellungnahmen antworten (Artikel 276 der frz. ZPO)
  • Die Rechtsprechung verlangt auch, dass die Parteien von sämtlichen Unterlagen, die der Sachverständige für seine Analyse verwendet, Kenntnis erlangen und effektiv in die Lage versetzt werden, dazu ihre Meinung zu äußern. Das ruft auch das Urteil vom 23. Januar 2020 in Erinnerung.

Die Missachtung des Prinzips des kontradiktorischen Verfahrens kann zur Nichtigkeit der Begutachtung führen (Artikel 175 der frz. ZPO, zur Veranschaulichung siehe auch: Kassationshof, 30. April 2014).

Diese Nichtigkeit folgt jedoch dem Prinzip der « formellen Nichtigkeit » (« nullité de forme », Artikel 114 der frz. ZPO) und kann nur ausgesprochen werden, wenn:

  • sie in limine litis, d. h. vor jeglicher Einlassung in der Sache und jeglicher Einrede der Unzulässigkeit geltend gemacht wurde (Kassationshof, 30. April 2014, a.a.O.);
  • dem Antragsteller der Nachweis gelingt, dass ihm durch die Missachtung des Prinzips des kontradiktorischen Verfahrens ein beschwerdefähiger Nachteil entstanden ist. Unter einem solchen Nachteil wird im Allgemeinen eine Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte verstanden, d.h. die Missachtung des Prinzips des kontradiktorischen Verfahrens muss die Partei, die sich darauf beruft, daran gehindert haben, ihre Anmerkungen vorzubringen und die Schlussfolgerungen des Sachverständigen kontradiktorisch zu erörtern (siehe z.B. Kassationshof, 20. September 2016).

Genau diese zweite Bedingung greift der Kassationshof in seinem Urteil vom 23. Januar 2020 auf.

In dem dem Kassationshof vorgelegten Fall sollte ein medizinisches Gutachten die Bestimmung des Zeitpunkts der „Schadenskonsolidierung“ (bestmöglicher Heilungsgrad) bei der geschädigten Partei ermöglichen. Vor Beginn der Begutachtung hatte die streitbeteiligte Krankenkasse dem Sachverständigen einen Schriftsatz übersandt, in dem sie begründete, warum sie von einem bestimmten Zeitpunkt der Konsolidierung ausgegangen sei. Dieser Schriftsatz war der geschädigten Partei nicht übermittelt worden, welche deshalb die Nichtigerklärung des Gutachtens beantragte. Dieser Antrag auf Nichtigerklärung war vom Berufungsgericht abgelehnt worden.

Der Kassationshof bestätigt, dass die fehlende Mitteilung des von einer Partei an den Sachverständigen übersandten Schriftsatzes gegenüber der anderen Partei die Missachtung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift darstellt, die zur Nichtigkeit des Gutachtens führen kann. Er hält jedoch die Entscheidung des Berufungsgerichts, den Antrag auf Nichtigerklärung abzulehnen, aufrecht, da die geschädigte Partei den ihr durch den Verfahrensfehler bei der Begutachtung entstandenen Nachteil nicht dargelegt hat.

Aus diesem Grund müssen im Rahmen eines französischen Begutachtungsverfahrens alle Parteien – oder ihre jeweiligen Anwälte – Adressaten der Mitteilungen der anderen Parteien an den gerichtlichen Sachverständigen sein. Die Missachtung des Prinzips des kontradiktorischen Verfahrens genügt jedoch nicht, um das Gutachten für nichtig zu erklären. Der Antrag auf Nichtigerklärung muss vor jeder Verteidigung in der Sache gestellt werden und darlegen, dass es der Partei unmöglich war, sich zu den ihr nicht mitgeteilten, vom Sachverständigen aber berücksichtigten Elementen zu äußern.

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